Sunday 26 December 2010

Petunia lieben

Chris.liebt Petunia. Sie wurde auf einer Schweinefarm geboren. Eine der Millionen Unschuldigen, die jedes Jahr in ein Leben von Misshandlung und Erniedrigung gezwungen werden, denen mit Worten, Blicken und Berührungen jede Minute ihres tristen Lebens gezeigt wird, dass sie verächtlich sind, hässlich, schmutzig, widerwärtig, unwert, geliebt zu werden, und unwert zu leben und dass sie deshalb die Verstümmlungen, Schläge, Entbehrungen, die Quälereien und Schrecken verdienen, die wir auf ihre seufzenden Leiber häufen im Namen unseres Vergnügens, worin immer dieses Vergnügen bestehen mag – Schinken, Speck, Hotdogs, Handtaschen, Punchingbälle, Hundeleckerchen.

Als Ferkel wurde Petunia den routinemäßigen Verstümmlungen von Schweinen unterzogen – Schwanzkürzen, Kupieren der Ohren, Abschleifen der Zähne –, als Jugendliche wurde sie von Teenagern gejagt, verhöhnt und gequält, als Erwachsene von ihren Haltern hungern gelassen, vernachlässigt und misshandelt. So ist es keine Überraschung, dass Petunia heute Kontakt vermeidet, ihre Grenzen verteidigt, sich rau verhält, niemandem vertraut. Es ist keine Überraschung, dass die Gegenwart anderer sie beunruhigt und dass sie, die andauernd wehrlos und abhängig gehalten worden war, sich nach einem Raum sehnt, den sie kontrollieren kann.

Was überrascht, ist die Erkenntnis, dass Petunias Wahl, sich abzuschotten, nicht die Folge der Misshandlungen ist, die sie erduldete, sondern einfach ihre natürliche Begabung. Ihre Fähigkeit, sich nach innen zu flüchten, die gewaltsame Welt aus- und ihr verletzliches Selbst sicher einzuschließen, ist es, was sie die dunklen Zeiten überleben ließ. In Einsamkeit ist es auch, wo sie sich entspannt, sich erholt, Erlebtes verarbeitet, lernt. Sie findet Gefallen an der Gesellschaft ihrer selbst, vermutlich weil sie sich ihrer eigenen Gefühle mehr als die meisten bewusst ist – was eine reiche, interessante, Einsamkeit ermöglicht, einen Raum, der es wert ist, aufgesucht, verteidigt zu werden, wert, zu ihm zurückzukehren.

Was immer sie hört, sieht, fühlt, welche feinen Schwankungen in Stimmung und Bewusstsein sie um sich herum spürt, kann, so scheint es, nur ohne Einmischung von außen wahrgenommen werden, in der ruhigen Umgrenzung eines abgelegenen Schlammlochs, in einem leeren Schuppen, in offenem Feld. Als ruhig nehmen freilich die wenigsten von uns Petunia; für die meisten von uns ähnelt sie mehr einem Minenfeld: scheinbar ruhig und harmlos, aber plötzlich gefährlich explosiv. Geh weiter auf eigene Gefahr; betrete Petunias persönlichen Raum und sie droht. Komm näher und sie stößt und schubst. Beißt. Lass sie in Frieden und niemand wird verletzt.

Nur in den Zeiten der Rastlosigkeit verlässt sie freiwillig ihre einsame Welt. Dies sind die Zeiten, wenn das Futter fade schmeckt und das Wasser schal, wenn das Strohbett sticht, wo es sonst ein sanftes Lager war, wenn die Schlammlöcher einfach nur schlammig sind und die übliche Behaglichkeit unbehaglich ist; die Zeiten, wenn sie ziellos hin- und herwandert, von einem Stall zum anderen zieht, von einem halbfertigen Schlammloch zum nächsten, von Gruppe zu Gruppe – zu Kontakt einladend nur, um ihn zurückzuweisen, sich so verhaltend, wie wir es tun, wenn wir eine alte Haut abgestreift, aber noch keine neue gebildet haben –; die Zeiten, wenn etwas darum kämpft, an die Oberfläche zu kommen, gegen eine schmerzliche Erinnerung ankämpft: ein neues Bewusstsein, eine neue Frage,

Dies sind die einzigen Zeiten, in denen sie versucht, den Schweinestall zu betreten, vielleicht so etwas wie Sinn für Gemeinschaft oder Familie suchend, oder vielleicht auf Leitung durch ihresgleichen hoffend, Verwandte, die Erfahrungen machten wie die, mit denen sie fertigzuwerden sucht. In diesen Zeiten fühlt sich die Gesellschaft anderer nicht länger wie ein Eindringen in ihre Privatsphäre an, sondern wie eine mögliche Lösung, und die Einsamkeit, die sie sonst so heftig verteidigt, scheint eher ein Gefängnis als ein sicherer Hafen zu sein.

Sie nähert sich dem Stall mit gesenktem Schwanz, gebeugtem Kopf, abgewandten Augen – nicht die gewöhnliche Größer-Böser-Biestiger-als-Du-Petunia – , sondern eine kleinere, bescheidenere Version ihrer selbst Aber sie schafft es nicht mal bis hinter die Stalltür. In dem Moment, da Agnes, die Matriarchin, sie erblickt, jagt diese sie fort, scheucht sie in gemächlicher Geschwindigkeit über das Gelände. Am Ende jeder ''Verfolgungsjagd'' sind beide erschöpft, schlafen ein, wo sie sich niederwerfen – gewöhnlich an gegenüberliegenden Seiten des Schweinestalls: Agnes, zu müde, um es in den Stall zurück zu schaffen, Petunia, zu erschöpft, um den Hof zu überqueren und zu ihrem eigenen Stall zu gelangen. Dieses Szenario mag sich am nächsten Tag wiederholen und am darauf folgenden, aber bald wird Petunia zu ihren einsamen, unabhängigen Gepflogenheiten zurückkehren, allein essen, allein schlafen, den Lebenshof auf eigene Faust durchstreifen, ihre eigenen Schlammlöcher graben und genießen, weg vom Treiben der Menge, niemandes bedürfend, sich wieder verhaltend wie das Schwein, das sie sein möchte – das zähe, unabhängige, unverletzliche, ungezähmte, gefährliche Minenfeld –, und wieder das verletzliche, verwundete Wesen, als das sie sich kennt, versteckend. Vor jedem außer Chris. Bei ihm ist sie ohne Furcht.

Wenn Chris in der Nähe ist, entfalten sich beinahe Flügel zu ihren Seiten. In seine Gegenwart wird ihre erdrückende unsichtbare Last leichter, ihr Schutzpanzer löst sich, ihr geschlagener Leib leuchtet von innen. Chris darf seine Hände auf ihren geschundenen Rücken legen, ihren verachteten Körper in die Arme nehmen, ihren narbenbedeckten Hals berühren, und sie schließt die Augen, scheint ihre massige Gestalt auf die Spitzen ihrer Hufe zu heben, wie um etwas Seltenes zu empfangen und zurückzugeben – jenen Stoff, den wir erzeugen und in die Welt entlassen, wenn wir lieben –, und sie nimmt den Segen dieser Berührung ganz in sich auf, die belebt, die Zärtlichkeit gibt und keine Gegenleistung erwartet und die dem widerspricht, sich dem entgegenstellt und, vielleicht, das auszulöschen zu beginnen vermag, was ihr in ihrem ganzen Leben als ''Nutztier'' in Worten, Blicken und Berührungen vermittelt wurde: dass sie verächtlich ist, hässlich, schmutzig, widerwärtig, unwert, geliebt zu werden, und unwert zu leben; dass sie deshalb die Verstümmlungen, Schläge, Entbehrungen, die Quälereien und Schrecken verdient, die wir auf ihren seufzenden Leib häufen im Namen des Vergnügens von Menschen, worin immer dieses Vergnügen bestehen mag – Schinken, Speck, Hotdogs, Handtaschen, Punchingbälle, Hundeleckerchen. Sie antwortet mit gurrenden, melodischen Lauten, summend wie ein Bienenstock, einem kleinen rhythmischem Nicken des Kopfes zum Takt der Musik in ihr, die Du fast sehen kannst, und einer warmen, unbewachten Stille, Sanftheit, einem offenen Darbieten von Verletzlichkeit, ein Fenster zur Tiefe ihres großen gebrochenen Herzens.

Was Du in diesem Augenblick siehst, ist kaum ohne innnere Bewegung anzuschauen. Du siehst die Schönheit ihres lebendigen Herzens und die funkelnde, hell erleuchtete Seele. Du siehst auch die Tiefe ihrer Wunden und die schiere Hoffnungslosigkeit von Heilung und die unauslöschliche Hoffnung, das Bedürfnis, das Verlangen, wieder ein Ganzes zu werden, und ihren Glauben, dass dieser Mann, der ihr in Worten, Blicken und Berührungen zeigt, dass ihr Leben wichtig ist, ihr nicht nur helfen wird, dieses unwahrscheinliche, tapfere neue Herz zu hegen, sondern auch, es zu tragen.

Geringfügig geänderter Auszug aus ''Pig Love'' von Joanna Lucas, Peaceful Prairie Sanctuary