Sunday 23 January 2011

Portrait von Marcie... einer schönen Seele

Als Marcie bei Peaceful Prairie Sanctuary (1) ankam, hatte sie schon alles verloren – ihre Freiheit, ihre Gemeinschaft, ihre Familie, ihre Jugend, jedes Lamm, das sie jemals gehabt hatte, alle, für die sie jemals etwas gefühlt, alle, denen sie jemals vertraut hatte, alles, was ihr vertraut gewesen war.

Sie erreichte diese neue Welt mit nichts außer – für die kurze Zeit, bevor sie erblindete –, der Fähigkeit, mit ihren eigenen Augen dieses unwahrscheinliche Land der offenen Ausblicke, des weiten Himmels, freien Bewohner und Menschen, die ihnen Leben wünschten, zu sehen, dieses freie Land, das Milliarden gefangen gehaltener Tiere nie erleben werden und nachdem sie doch alle in allen Fasern bis zum letzten Atemzug sich verzehren. Und vielleicht sah sie all dies mit der Fähigkeit, zu glauben, was sie sah. Wie alle Nutztiere wurde Marcie nicht durch das bestimmt, was da war, sondern durch das, was fehlte – die sichtbaren und unsichtbaren Amputationen eines Lebens in Sklaverei – verstümmelter Körper, gebrochener Geist, verwundete Seele, ungelebtes Leben, die Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden, voll bis zum Rand, die Fähigkeit, sich zu freuen, gänzlich unerfüllt. In den Jahren ihrer Gefangenschaft auf einem kleinen Bauernhof, wo sie wiederholt mitansah, wie ihre Lämmer getötet wurden, war ihr schon so viel genommen worden, dass, als sie gerettet und zu einem Ort gebracht wurde, wo sie endlich ihr Leben beginnen konnte, es nicht mehr viel gab, worauf ein Leben aufbauen konnte.

In ihrem ersten Jahr auf dem Lebenshof, als sie noch sehen konnte, floh sie vor jedem, der aussah wie die, die sie misshandelt hatten – vor jedem Menschen in der Nähe – und für den Rest ihres Lebens vermied sie jeden, der aussah wie sie – jedes Mutterschaf, jeden Widder, jedes Lamm. Sie ''versteckte'' ihr großes, schönes, wogendes Selbst unter den Ziegen, auffallend schafhaft bummelnd inmitten des Schwalls schneller, schlanker, hagerer, leichtfüßiger Ziegen, sicher in dem Glauben, gut getarnt zu sein unter diesen Wesen, die in nichts aussahen, klangen, sich bewegten, sich verhielten wie sie selbst. Sie zog mit ihnen umher, suchte Futter, kampierte mit ihnen, ignorierte die Tatsache, dass sie, nach jedermanns Meinung außer ihrer eigenen, schlecht zu ihr passten – zu schnell, rowdyhaft, mutwillig, frech, unberechenbar für sie –, und vergab ihnen ihre vielen Vergehen, wie die Male, wenn sie sie zurückließen, weit draußen auf dem Feld, ihre Ortungsrufe ignorierten und ohne sie heim gingen. Aber aus Gründen, die dem für sie standhielten, blieb sie ihnen unbeirrbar loyal für den Rest ihres Lebens. Was auch immer Marcie in den Ziegen sah, von ihnen lernte, von ihnen empfing, es war klarerweise etwas, das sie brauchte. Wir machten Witze darüber, dass sie dächte, sie sei eine Ziege. Aber eher war das Gegenteil zutreffend: was sie zu den Ziegen hingezogen sein ließ, war nicht eine vorgestellte Ähnlichkeit, sondern der wahrgenommene Unterschied. Sie schien jemand sein zu wollen, der ihr völlig unähnlich war, ein ganz anderer, ungleich dem ohnmächtigen Opfer, das sie ihr Leben lang gewesen war.

So schloss sie sich den Ziegen an und teilte ihre tiefsten Momente des Friedens mit ihnen. Du konntest sie mit ihnen in der Sonne ruhen sehen, in einem tranceähnlichen Zustand, beinahe feierlich, als ob sie gemeinsam einer großartigen Symphonie lauschten, und in der Tat taten sie gerade dies: dem Rauschen der Blätter im Frühling lauschen, dem Rascheln von Insektenflügeln, dem über die Fläche des Teichs huschenden Wind, den Duft des Windes kostend. Solche Momente des Friedens teilte sie mit den Ziegen. Aber in den Momenten der Traurigkeit und des Kummers war sie allein. Und sie hatte Momente tiefer Traurigkeit, einige ausgelöst durch unsichtbare Erschütterungen, andere durch Ereignisse, die sogar wir sehen und verstehen konnten, wie etwa die Zeiten, wenn der Geruch neugeborener Lämmer, ihren Müttern entrissen und auf einem Nachbarhof geschlachtet, die Luft erfüllte und den alten Schmerz in ihr wachrief, einen Schmerz, den die Zeit nicht schmälerte, sondern der in jedem Frühling neue Dornen zu tragen schien. Das waren die Zeiten, wenn sie meistens davonzog, getrennt von ihrer adoptierten Herde, sich verirrte und in ihrer Blindheit unfähig war, nach Hause zu finden. Da die Gegenwart von Menschen sie in Schrecken versetzte, bestand die einzige Möglichkeit, sie nach Hause zurückzulotsen, für uns darin, die Ziegen zu rufen in der Hoffnung, dass sie antworten würden, laut genug für Marcie, sie zu hören und dem Laut zur Herde zurück zu folgen. Den Ziegen vertraute sie, aber Menschen erweckten in ihr nichts als Grauen – das Grauen, an das sie sich erinnerte, und das Grauen, das sie von unserer Hand zu erfahren erwartete.

Wir verstanden ihre Furcht und gaben uns große Mühe, nicht in den Raum, in dem sie sich sicher fühlte, einzudringen. Was wir nicht verstanden, damals, und bis heute nicht völlig verstehen, ist, warum sie sich entschied, die körperliche und emotionale Distanz zwischen uns zu verringern und jeden Tag ein kleines Stück näher an uns heranzukommen, bis es keine Distanz mehr gab, bis unsere Nasen sich buchstäblich berührten. Sie erhielt nichts zusätzlich durch unsere Nähe. Nichts, was sie nicht schon reichlich erhalten hatte, als sie uns mied – Futter, Unterkunft, Freunde, Leckereien waren alle leicht erreichbar für sie, ob sie uns akzeptierte oder nicht. Warum also entschied sie sich, uns zu vertrauen, wenn ihr Leben lang Menschen ihr unsagbar Grausames zugefügt hatten, um des Geschmacks des Fleisches ihrer Kinder willen, um eines Flecken Lammfells, einer Handvoll Wolle willen? Warum ertrug sie unsere Nähe, wenn sie uns doch ebenso leicht hätte ignorieren können?

Es ist schwer zu sagen. Tatsache ist aber, dass sie uns nicht nur akzeptierte, sie suchte uns auf. Wenn einer von uns ihrer Einschätzung nach sich zu lange im Haus aufgehalten hatte, klopfte sie mit ihrem Huf an die Tür und rief uns heraus. Wir kamen jedes Mal heraus, mit Leckerli in der Hand – weil es das war, wie wir annahmen, was sie wollte. Und für den Rest ihres Lebens ''drillte'' sie uns so, auf die Veranda zu kommen, mehrmals täglich. Dann, in ihrem letzten Jahr bei uns, erweiterte sie ihr Wachehalten bis in die Nacht. Sie begann damit, auf Chris zu warten,sich auf der Veranda postierend, ruhig, geduldig wartend, solange es dauerte – bis Mitternacht, bis zum folgenden Morgen, bis Chris sicher von der Arbeit zurück war. Sie wartete, ohne zu klagen, ohne um Leckerli oder Aufmerksamkeit oder Gesellschaft zu bitten oder um irgendeinen der Genüsse, die, wie wir dachten, sie dazu motivierten, jeden Nachmittag an die Tür zu klopfen. Sie verankerte sich einfach an der Haustür und hielt ihre einsamen spät-nächtlichen Wachen, entfernt von der Sicherheit ihrer Herde, entfernt von ihrer Unterkunft, unter offenem Himmel. Und nichts konnte sie dazu bewegen zu weichen – nicht Butos ungestümes Bellen, nicht die beunruhigende Entfernung von den Ziegen, nicht der Regen, nicht der Schnee, kein Gewitter. Sie stand da wie eine gute Mutter, verkeilt zwischen Himmel und Erde, mit einer Mischung von Mut, Vertrauen, Erwartung, Hoffnung und Resignation, ihr massiger Körper fest verankert zwischen der großen, bösen, gefahrvollen Welt und dem Heim ihres auserkorenen Schützlings und sie rührte sich nicht vom Fleck, bis Chris sicher zuhause war. Erst dann erhob sie sich schließlich, verließ die Veranda und schlenderte zu ihrem Stall, um dort den Rest der Nacht zu verbringen, im Genuss des verlässlichen Zeugnisses, dass Chris und Michele beide am Leben und gesund waren.

Es war kein ''Plan''. Es war eine viel einfachere, viel weisere, viel tiefer gefühlte Wahrheit. Marcie wünschte uns Leben. Sie verlangte, mehrmals am Tag, den Leckerli-in-der-Hand-Beweis dafür, dass es uns gutging, und sie bewachte die Veranda in der Nacht, bis sie sicher war, dass ihre beiden Menschen lebendig und gesund waren. Es war nicht schwer zu verstehen. Was die meisten von uns vielleicht niemals verstehen werden, wie Marcie ihren Peinigern so vollständig vergeben konnte, dass sie Angehörigen der menschlichen Sippe nahe sein wollte.

Joanna Lucas, ''Portrait of Marcie … A Beautiful Soul''; geringfügig geänderte Fassung

(1) Gnadenhof